Über das eigene Leben schreiben - Betrachtung eines Scherbenhaufens

Essai für VOLLTEXT 1/2023 Abschlussvortrag bei der online Tagung „narrativa 7“ der Textmanufaktur – Autorenschule, gehalten am 18.3.23

Download pdf

Ich frage mich, was mich dazu gebracht hat, diesen Titel zu wählen. Bevor der Text überhaupt geschrieben war. Ein paar Tage lang habe ich vollkommen problemlos mit dieser – zugegeben etwas reißerischen – Überschrift gelebt. Unbehaglich wurde sie mir erst und interessanterweise in dem Moment, als sie nicht mehr rückgängig zu machen war. Sie stand da, und ich musste mich fragen, was sich dahinter verbirgt.
So ist es häufig. Ein Satz kommt, sehr schnell, eine Zeile oder ein Titel, und dann muss ich ergründen, was er von mir will. Was das betrifft, glaube ich eher nicht an Zufälle.

Um es gleich direkt anzugehen. Warum Scherben?
Beginnen wir mit dem Naheliegenden. Etwas zerbricht, klar. Auf einer ersten, vielleicht sogar der allerersten Ebene (was den Prozess des Schreibens betrifft) hat es damit zu tun: Wer schreibt, handelt. Nicht erst meine letzten beiden Bücher haben mir dafür einen Beweis geliefert. Wer „eng am eigenen Leben entlang“ schreibt, wie es heute oft heißt, wer Ich sagt und andere in dieses Spiel mit hinein zieht, muss sich bewusst sein, dass dieses Schreiben Konsequenzen hat. Beziehungen verändern sich, werden manchmal sogar zerstört. Andere Menschen, nahestehende, ja geliebte Personen sind verletzt, wenn sie sich in einem Buch wiedererkennen. Was für den Schreibenden – mich! – Ergründung, Klärung, geformte Existenz bedeutet, ist für den anderen, den Beschriebenen, nicht selten die Überschreitung einer Grenze, womöglich sogar Verrat. Ich handle durch das Veröffentlichen eines autobiografisch durchfärbten Buches, und manchmal handle ich vielleicht mehr, als mir lieb ist. So ist es.

Offenbar geht es nicht anders. Ich will es gleich vorwegnehmen. Als Schreiberin autobiografischer Stoffe bin ich nicht die harmlose Beobachterin des eigenen Lebens. Oft erkennt man erst in der Zerstörung, in den Scherben und deren Neuanordnung, eine bestimmte Wahrheit. Anders komme ich nicht an die Dinge heran, wie mir scheint.
Andererseits: Wenn man ehrlich ist, ist dieses vermeintliche Ganze eigentlich nie da. Etwa eine heile Welt, die zerbricht, oder die man schreibend bewusst zerstören würde. Leben wir nicht permanent mit Bruchstücken, von Anfang an? Mit Unvollständigkeiten, biografischen Brocken, auch mit verschiedenen Sprachen, Sozio- und Idiolekten, mit Halbverschwiegenem und vagen Erinnerungen? Instinktiv wissen wir es. Wir sind nur der Scherbenhaufen einer Menge anderer Existenzen, die uns verletzt oder geliebt und auf eine bestimmte Weise gefärbt haben. Wir betrachten die Welt laufend durch Scherben, wir heben sie vors Auge, und mal liegen sie besser in der Hand, mal nicht ganz so griffig. Wir erzählen uns die eigene Geschichte, indem wir sie zu verschiedenen Mustern zusammenlegen. Und meistens fehlt etwas, wenn wir diese Muster betrachten, das heißt: wenn wir über die Welt und uns darin nachdenken. Also ergänzen wir es. Wir erfinden, auf dass ein triftiges Bild entsteht.
Dies ist, was ich tue, meine Arbeit als Schriftstellerin, die Erzählungen und Romane verfasst.
Ohne mich zur Sklavin meiner eigenen Metapher machen zu wollen, erscheint mir das Bild der Scherben für das Leben und damit auch für die Literatur, die aus diesem Leben entsteht, doch viel zutreffender als etwa die Vorstellung eines amerikanischen Quilts, in dem die einzelnen Teile aufs Schönste miteinander verwoben und vernäht sind, so dass zuletzt eine wunderbar gemütliche, ein wenig pittoreske Decke entsteht. Ich empfinde eher die Gefährdung beim Schreiben, eine gewisse Scharfkantigkeit, mit der man – nein ich! – die Teile anfasse, um sie genau zu betrachten, aber auch das Funkeln, das entsteht, wenn sie richtig, das heißt auf eine besondere, neue Art zusammengelegt werden.

Wie mir auffällt, habe ich das Ich in einem Großteil meiner Geschichten, die zu Büchern wurden, als Mittel der Selbsterforschung gebraucht. Ich gebrauche es noch immer so. Rein technisch betrachtet wäre es natürlich auch anders möglich. Das Ringen mit der Welt, eine direkte und möglichst kompromisslose Auseinandersetzung mit der Geschichte, die man als Schriftstellerin über das eigene Leben erzählt, lässt sich auf vielerlei Weise angehen. Fest steht: Ich habe es viele Male anders versucht. Aber letztlich bin ich immer zu ihm zurückgekehrt, zu diesem Ich, das eine fiktive Version meiner selbst ist. (Um sich den Verwandlungsprozess klar zu machen, denke man etwa an den amerikanischen Comedian Jerry Seinfeld, der in der Sitcom „Seinfeld“ eine Kunstfigur namens Jerry Seinfeld spielt.)

Rückblickend scheint alles leicht und selbstverständlich. Aber das war nicht immer so. Ich erinnere mich an meine Jugend, als ich nicht genau wusste, ob und wie ich überhaupt Künstlerin sein konnte. Und wenn ja, ließ sich so einfach Ich sagen? Und wenn ja, wovon konnte dieses Ich überhaupt erzählen?
Die Bücher, die mich in meiner Kindheit tief beeindruckten, waren oft Heldengeschichten. Sie spielten im Zweiten Weltkrieg, der in den Geschichten meiner Großeltern, in der Literatur und im Film, und auch im Anblick vieler Städte auf konkrete Weise noch herumgeisterte. Dieser Krieg war ewig nah, und genauso nah waren mir die Geschichten der Spione und Kämpfer, der mutigen Menschen, darunter sehr oft Kinder, die in einer gefährlichen Zeit Widerstand geleistet hatten. Ich habe erst viel später verstanden, wie sehr mich diese Lektüren, in denen es immer um Leben und Tod ging, geprägt haben. Obwohl oder vielleicht gerade weil ich selbst in einem äußerst langweiligen Staat lebte, noch dazu in einer äußerst langweiligen Kleinstadt, bedrängten mich die moralischen Fragen aus diesen Büchern. Ich sah mich vor schwerwiegende existenzielle Entscheidungen gestellt. Eine davon hieß: Wie würdest du handeln, wenn es hart auf hart kommt?
Schließlich kam es auf mich an. So lautete die unausgesprochene Bestimmung damals: Niemand steht außerhalb. Man ist immer verstrickt. Ja, auf den einzelnen kam es an, durchaus, aber nicht, wenn dieser Einzelne sich für einzigartig, gar für etwas Besseres hielt und sich abseits stellte. Ich, ich, ich – sollte niemand rufen, außer, wenn er mit seinem Handeln der sogenannten Sache diente (was auch immer das war). Ein Individuum – dieses Wort war in meiner Kindheit ein Schimpfwort, für Menschen, die sich nicht einfügen wollten, die eine Extrawurst gebraten haben wollten, die aus der Reihe tanzten, ach, ich könnte viele Bilder finden für diese so fernen, absurd anmutenden Auffassungen einer absurd fernen Zeit.
Das Problem war: Mein eigenes Ich kam mir gegenüber den heroischen Menschen in den Büchern, die ich so gerne las, höchst wankelmütig und schwach vor, ja geradezu feige. In der Phantasie stellte ich mich permanent auf die Probe. Das Ergebnis sah eindeutig nicht gut aus. Ich war keine Heldin oder besser gesagt: Ich wäre keine, wenn es eines Tages drauf ankäme.
Niemand kann wissen, was genau uns im Leben auf eine bestimmte Spur setzt, aber ich halte diese inneren Selbstbefragungen für eine erste unbewusste Lektion darüber, wie komplex Menschen sind. Und ich danke es noch heute Thomas L., einem Mitschüler an der Erweiterten Oberschule (später Gymnasium), der offenbar in dieselbe Richtung wie ich dachte, aber viel mutiger voranpreschte, als er im Deutschunterricht der 9. Klasse auf das damals gängige Aufsatzthema: Du bist ein Mensch – beweise es! gerade nicht moralisch konform antwortete, sondern aus dem Roman „Nackt unter Wölfen“ ausgerechnet den Feigling herauspickte, um anhand dessen verräterischen Handlungen in einem KZ den allumfassenden Menschen zu belegen.
Thomas L. bekam eine Fünf für seinen Aufsatz, und ich hatte etwas begriffen.

Irgendwann passierte dann etwas. Der Lauf der Geschichte änderte sich auf überraschende Weise, und damit auch der Lauf meiner Lektüren.
Die Revolution 1989 war ein hervorragender Schnellkurs in Sachen Was man so erwarten darf vom Leben. Von da an war klar: Das Leben ist kein langer ruhiger Fluss, wie ein Kind in einem französischen Film mit dem gegenteiligen Titel die Erwachsenen belehrt, und den ich damals, noch im Wohnzimmer meiner Eltern, im neu erworbenen Farbfernseher sah. Zu dieser Zeit nahm eine Erkenntnis ihren Anfang, die lautete: Hoffe nicht auf Kontinuität. Das Leben, ja die Geschichte selbst, ist keine Leiter in eine womöglich erhabene Zukunft hinein, sondern eher ein Sammelsurium aus Anekdoten und Schrecknissen, eben ein Scherbenhaufen. Der sich jeweils anders anordnen lässt – und zwar von mir selbst! Wie ich ihn lege und deute, war mir plötzlich selbst überlassen, es interessierte niemanden, ich war nicht mehr Bestandteil einer großen Erzählung, und genauso war ich auch entlassen aus allen moralischen Fragen und Mustern und Anforderungen.
Ich war übergewechselt in eine Gesellschaft, in der das sogenannte moral luck, also das moralische Glück galt, wie ich – viel später – bei Hans-Magnus Enzensberger las, der es wiederum von einem amerikanischen Philosophen hatte. Das heißt, ein Leben, das man womöglich von Anfang bis Ende in Unschuld verbringen konnte, ohne auch nur einmal herausgefordert zu werden von den großen existentiellen Fragen. Die waren inzwischen abgewandert, unterirdisch gruben sie höchstens noch hier und da im Privaten weiter.

Die Kehrseite dieser für mich lebenstechnisch glücklichen Fügung war eine gewisse Ratlosigkeit, die mich ganz kurz durchzuckte. Ich fragte mich, worüber sich in einer solchen Zeit eigentlich schreiben lässt. (Zu der Zeit leuchteten die Fragen meiner Kindheit noch zu mir herüber. Allerdings mussten sie mir inzwischen eher peinlich sein. Bedeutsamkeit oder die Suche danach wurde in den neunziger Jahren, als ich erwachsen wurde und ernsthaft zu schreiben begann, auf allen Ebenen der Gesellschaft, erst recht in der Kunst, mit genervtem Stöhnen quittiert. Das machte es nicht leichter.)
Ich glaube, nur so lässt sich meine Euphorie erklären, mit der ich damals insbesondere einen Roman las. Er kam aus Frankreich und klärte mich grundlegend über die Möglichkeiten der Gegenwartsliteratur auf. Sein Titel: „La salle de bain“, „Das Badezimmer“, geschrieben von Jean-Philippe Toussaint.
Dieser sehr kurze Roman war das ganze Gegenteil der handlungsstarken Romane meiner Kindheit. Hier geschah buchstäblich nichts. Ein Ich-Erzähler verbringt seine Tage etwas träge, aber nicht deprimiert, Fußball schauend in einer Badewanne. Handwerker kommen und renovieren die Wohnung. Was mir auch sehr gefiel: die sanfte Melancholie der Hauptfigur rührte nicht von sogenannten Beziehungsproblemen her, hin und wieder schaut seine Freundin mit dem schönen Namen Edmondsson vorbei. Dann verreist er sogar, aber nur, um in einem Hotel wieder in einer leeren Badewanne zu liegen. Mag sein, dass mancher Leser oder Kritiker den Roman für ein Schelmenstück, für ein ironisches Geplänkel hielt. Mir aber war es sehr ernst. Toussaint – das war deutlich zu spüren – war in diesem Buch ein Nachfahre Becketts, der ja auch nur für Ahnungslose ein ironischer Autor ist. Für mich drückte sich in diesem modernen Eremitendasein ein Lebensgefühl aus. Diesem Typen in seiner Badewanne war das moral luck seiner Gegenwart genauso unbehaglich wie mir. Er schien irgendwie zu leiden an der Freiheit, einer Art reinen Frei-Zeit. War das möglich? Dass man daran litt, gerade nicht in die Pflicht genommen zu werden, ohne Auftrag zu sein? Die Tragik seiner Existenz kulminierte für mich in dem Satz: „Ich wusste, dass ich ein Risiko eingehen musste, um die Ruhe meines abstrakten Lebens zu stören, um.“ Ja, um was zu tun? Der Ich-Erzähler kann den Satz so wenig beenden wie ich es zu der Zeit konnte.
(Übrigens: Ich habe das Buch seit sehr vielen Jahren zum ersten Mal wieder zur Hand genommen und staune. Wie nur konnte mir entfallen, dass es kein Fließtext, kein Prosateppich ist, sondern aus einzelnen durchnummerierten Stücken, um nicht zu sagen Scherben, besteht, die Toussaint hier aneinandergereiht hat!)
Um das Ganze etwas abzukürzen: Ich verstand, dass die Geschichte von einem Ich erzählt werden musste. Das war nicht bloß eine technische Frage. Nach allen Utopien, nach den Theorien (die in Frankreich eine weitaus größere Rolle spielen als in Deutschland), war das Ich die kleinste noch existente, übriggebliebene Einheit. ICH war die letzte Verbindlichkeit, die letzte Verbindung zur Welt, die letzte Brücke, vielleicht sogar die letzte Bastion!, aber eine ganz unheroische.
Ich wusste nach dieser Lektüre auch: Man erzählt nicht von seinem Leben, sondern von einem Lebensgefühl. Dass beides oft verwechselt wird, hat mich in der Folge noch lange irritiert. Egal. Ich war inzwischen einem Paradox auf der Spur, das Jonathan Franzen in einem seiner Essais so beschreibt: „Je größer der autobiografische Gehalt im Werk eines Schriftstellers, desto geringer die oberflächliche Ähnlichkeit mit seinem eigentlichen Leben.“

Irgendwann schrieb ich meine erste richtige Geschichte. Eine Erzählung mit dem Titel „Himmelfahrt“. Ich schrieb diese Geschichte an einem einzigen Abend, im Stehen an einem Kachelofen in meiner ersten Wohnung, und ich war sehr glücklich. Unter anderem war ich entzückt über den Umstand, eine Figur mit einem Namen erfunden zu haben. Dieser Name lautete: „Ich“. In dieser Geschichte findet das Ich seinen toten Vater, einen ehemaligen Offizier, der nun, in der Zeit und der neugewonnen Freiheit, jeglicher Aufgaben entledigt ist. Mein wirklicher Vater lebte, aber in meiner Erzählung starb der Vater. Eltern gab es nicht mehr, sie waren von der Geschichte schwach und hilflos gemacht, ihrer Bedeutung beraubt worden. Uniformen waren nur noch Kostüme in einer Welt der ewigen Partys.

Bei all meiner Freude schwang vor allem die Erleichterung darüber mit, dass Schreiben nicht einfach eine bloße Darbietung wirklich erlebter Szenen war, die man leichthin in Schrift übertragen musste. Es galt, das Wesentliche, das hinter allem lag, zu betrachten. Als würde man ein Kleidungsstück auf links wenden. Es ist noch immer dasselbe Kleidungsstück, aber der neue Anblick hilft einem, die Machart, sein eigentliches Wesen, besser zu erkennen. Die Fiktion war die Möglichkeit, diesen Anblick hervorzubringen. So jedenfalls verstehe ich den Satz, den Navid Kermani in einem seiner Romane geschrieben hat: „Überhaupt erfinde ich als Romanschreiber nur und nur dort, wo es der Wahrheitsfindung dient.“

„Schreiben muss eine Offenbarung sein, aber eine Offenbarung für den Schreibenden“, heißt es wiederum bei Peter Handke. Das Überraschende dieser Selbsterkundung ist bis heute beinahe eine Bedingung für mich geblieben. Es ist das Unzulängliche, manchmal auch das Unheimliche und Geheimnisvolle, das ich vorher noch nicht weiß. Es sind die Möglichkeiten meines Ichs. Fest steht: Mein literarisches Ich läuft mir voraus, es erlebt tiefer als die reale Person, die ich bin, es erfährt die Welt radikaler, intensiver, es ist verletzlicher, es ist aggressiver. Das schreibende Ich hat die Aufgabe, es zu entschlüsseln, es freizusetzen und zu präsentieren. Weil man an ihm besser die Dinge erkennen kann als an dem anderen Ich, dem, das durch den Alltag läuft und sich beispielsweise mittags ein Ei brät.
Darüber hinaus haftet dem Schreiben über sich selbst, so wie ich es für mich verstehe, eine gewisse Tragik an, denn es zeugt von einem unauflöslichen Konflikt in unserem Bewusstsein. Dieser Konflikt besteht darin, dass wir uns selbst zu durchleuchten gelernt haben und uns dennoch auf ewig ein Rätsel bleiben. Aus diesem Grund, weil sie sich dieser Tragik bewusst ist, halte ich die Autofiktion für eine demütige Form des autobiografischen Schreibens. Die „reine“ Autobiografie sagt: Ich weiß, wie es gewesen ist. Ich erzähle euch davon, und auch ihr sollt nicht zweifeln. Die Autofiktion aber – jedenfalls sehe ich das so – spricht die Unzulänglichkeit, die Umgrenztheit der eigenen Version sozusagen laut mit.
Genau dadurch erlangt sie in meinen Augen Souveränität. Sie fragt, sie tastet, sie bietet an, sie leidet zuweilen auch an ihrer Begrenztheit. Jedenfalls ist sie keine dominante, keine unproblematisch wissende Form. Im Gegenteil. Fast scheint sie mir ein wenig orientierungslos, in jedem Fall suchend, neu orientierend, umschreibend. Mehr als am bloßen Spiel der Sprache ist sie an Erkenntnis interessiert. Und sei es auch nur an der ihrer eigenen Ohnmacht. Im besten Falle ist sie Erzählung und Analyse zugleich.
Um an dieser Stelle die nun auch hierzulande allseits bekannte Annie Ernaux ins Feld zu führen: Ihre sogenannte Rache, die derzeit von aller Welt zitiert wird, besteht nicht darin, sich darüber zu beschweren, welches Unrecht ihr und ihrer Klasse angetan wurde. Ernaux hatte nach jahrelanger Suche Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts endlich eine literarische Sprache gefunden, mit der sich die Geschichte ihres Vaters und damit ihres eigenen Herkunftsmilieus erzählen ließ, ohne sich der bekannten literarischen, meist verschönernden Formeln zu bedienen. Sie hat gängige Erzähl- und Sprachtechniken verworfen und treffendere gefunden. Sie hat Bekanntes um- und damit neugeschrieben. Auf diese Weise konnte sie ihre persönliche Geschichte der Literatur hinzufügen. Sie konnte schließlich mitspielen, nach Regeln und Gesetzen, die nicht fremdbestimmt, sondern von ihr selbst gefunden worden waren. Und die sie in ihren Texten explizit benennt. Allein darin besteht ihre „Rache“.

Aber noch etwas anders Wesentliches schwingt für mich in den neuen autofiktionalen Erzählungen mit. Das ist eine Art Trauer über das zurückgelassene, auf sich gestellte Subjekt. Die Trauer darüber, dass alles andere außer uns selbst als Bezugspunkt verloren oder falsch ist, zumindest unzuverlässig oder verdächtig. Die früheren Bezugspunkte – starke, relevante Gesellschaftserzählungen (Fiktionen) etwa, Erklärungen, wie der Hase läuft, d.h. wie die Dinge zu verstehen sind – sind verloren. Und das Ich schlägt sich in dieser Welt durch (oder sitzt in der leeren Badewanne, einem zugleich komfortablen wie auch ungemütlich-sperrigen Ort). Vielleicht ist dieses Gefühl der Grund, warum gerade diese ästhetische Form, die Erzählungen über uns selbst, uns derzeit so in ihren Bann ziehen, warum wir fasziniert davon sind und uns in den vermeintlich wahren Ich-Geschichten so gespiegelt, ja nahezu heimisch fühlen.
Eine kurze Erklärung ist, autofiktionale Texte würden das Begehren nach „authentischer Erfahrung“ bedienen, sie stillen den „Hunger nach Realität“, wie es der amerikanische Autor David Shields sieht. Aber fast noch mehr scheint mir dies ein starkes Bedürfnis unserer Zeit zu sein: Geschichten sollen verfangen. Verfangen heißt ja nichts anderes, als dass etwas hängen oder kleben bleibt und auf diese Weise Bindungen entstehen. Geschichten sollen etwas Verbindliches, Verbindendes haben, weil wir sonstige Bindungen vielleicht losgeworden sind und es jetzt erst merken. Wir sehnen uns nach Unmittelbarkeit, und ja, nach Aufrichtigkeit.
Wohlgemerkt, unter Aufrichtigkeit verstehe ich eine ästhetische Kategorie, einen Gestus, nicht eine absolute, womöglich nachprüfbare Größe. Es ist ein Ton, in den ich mich als Erzählerin letztlich selbst hineinträume.
Kürzlich las ich einen der wichtigen Selbsterkundungstexte jüngeren Datums wieder: „Montauk“ von Max Frisch, veröffentlicht 1975. Die kühnen Schnitte, seine eindeutige Scherbenwirtschaft, das Zweifeln und die strenge Selbstbefragung machen ihn noch immer zu einem Roman, der uns etwas über das Genre der Autofiktion verraten kann.
Die Altersmelancholie, die Frischs Lebensbilanz durchzieht, endet damit, dass die junge Geliebte auf einer New Yorker Straße im Gewirr der Menge verschwindet. Da geht sie hin, die Liebe, die Jugend, die man selbst einmal war und mit alldem die eigene Geschichte. Man wird alt. So empfindet es der Ich-Erzähler (und mit ihm wir).
Es lässt sich heutzutage leicht herausfinden, dass die junge Frau – im Buch heißt sie Lynn – in der Realität, also der wirklichen Wirklichkeit nicht einfach so im Gewühl von New York verschwand. Der Autor Max Frisch – erstaunlich – hat damals noch eine ganze Weile mit der jungen Frau zusammengelebt. Ist das wichtig? Ich finde ja, denn es sagt mir: Erzählungen, weder die autobiografischen noch die autofiktionalen, folgen niemals der Wahrheit. Das Ich ist immer ein Ich in Texten. Dieses Ich hört auf, es ist fertig, wenn der Rand der zu schreibenden Wirklichkeit erreicht ist. Weiter darf es nicht. Und wer noch einen Vorhang wegzieht und dann noch einen, in der Hoffnung, irgendetwas zu entschlüsseln, wird nichts finden, weil er sich bereits außerhalb der Literatur befindet, wo es meistens banaler, in jedem Fall aber weniger interessant zugeht. Alles, was jemals auf dem Papier entsteht, sind zusammengestellte Scherben, die in dieser speziellen Zusammenstellung besonders schön funkeln. Nur darum geht es. Um schöne Geschichten, die uns im besten Falle binden.

Möglicherweise hängt unsere Lust an autofiktionalen Geschichten auch damit zusammen, dass wir uns besonders gut wiedererkennen in diesem ästhetischen Gestus. Wir erkennen unsere Ähnlichkeit mit anderen ja gerade in unseren Unzulänglichkeiten, in dem, was uns begrenzt. In unserem Unvermögen, aus der Falle des Lebens zu entkommen, gleichen wir uns am stärksten. Man könnte es die Sehnsucht nach dem universell Subjektiven nennen. Anders als die „Neue Subjektivität“ in den siebziger Jahren, die ja eher ein Rückzug war, ein Behaupten der individuellen Position im Gerangel einer überideologisierten, in politischen Lagern denkenden Welt, möchte das universell Subjektive eher die Ähnlichkeiten im Gewühl einer tosenden, unterideologisierten Welt erkennen. Durch Intimität und Verbindlichkeit.
Fragte man mich nach der Aufgabe, nach Sinn und Ziel von Literatur, wäre es jedenfalls dies: die Ähnlichkeit zwischen Menschen zu beweisen, nein: diese Ähnlichkeit überhaupt erst herzustellen. Ungefähr so, wie es in den letzten Sätzen in Raymond Carvers berühmter Kurzgeschichte „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ anklingt: „Ich hörte mein Herz schlagen. Ich hörte die Herzen der anderen. Ich hörte das Menschengeräusch, das wir machten, während wir dasaßen, ohne dass sich einer von uns rührte, auch nicht, als der Raum dunkel wurde.“

Nach einem langen Radiointerview gegen Ende ihres Lebens hat die italienische Schriftstellerin Natalia Ginzburg gesagt: „Es ist schwer, über sich selbst zu sprechen, aber es ist schön“. Auf den ersten Blick könnte einem der Satz altmodisch, nicht mehr zeitgemäß erscheinen. Heute, wo uns das Sprechen über uns selbst so selbstverständlich erscheint. Ja mehr noch. Es ist nicht nur eine Selbstverständlichkeit, es ist zu einem Pflichtprogramm erhoben worden. Wer nicht über sich spricht, kommt nicht vor. So lautet die Drohung eines Zeitgeistes, der als buntschillernde Wolke über uns allen zu hängen scheint.
Ich glaube, in Wirklichkeit gibt es keine Moden, was das betrifft. Man muss den Satz nur richtig verstehen. Dann ist er gänzlich unabhängig von jeder Zeit. Weil das tiefe Erkennen unseres Selbst, dessen, was an Schmerz und Freude, an Begeisterung und Fehlern in uns ist, immer einen schweren Gang bedeutet. Er bedeutet Überwindung und Mut, und es braucht Klarheit und Ehrlichkeit, etwas wahrzunehmen, was man vielleicht lieber übersehen hätte. Und dann? Dann wird es schön? Vielleicht, ein bisschen. Vielleicht liegt das Schöne letztlich darin, dass man sich als einen vollständigen Menschen wahrzunehmen gestattet. Und darüber ein wenig Erleichterung verspürt.